Nordafrikaner in Deutschland: "Nur deutsch ist ja langweilig"
17-04-2016 00:00:59
Treffen sich ein Marokkaner, ein Algerier und ein Tunesier... Wie lebt es sich damit, dass "Nordafrikaner" zum Synonym für kriminelle Männer geworden ist?
Interview: Valerie Schönian und Frida Thurm
Nordafrikaner. Seit den Übergriffen in Köln in der Silvesternacht wird dieser
Begriff gebraucht, um kriminelle Marokkaner, Algerier und Tunesier zusammenzufassen. Wir haben drei Männer in Berlin getroffen. Abdessamad Idrissi, 34, aus Marokko, Youcef Chaouch, 30, Algerier, geboren in Paris, und Ghassen Rahmani, 32, Tunesier, geboren in Hamburg. Alle drei sind in Facebook-Gruppen aktiv, in denen sich jeweils Marokkaner, Algerier und Tunesier in Berlin vernetzen. "Ah, den kenne ich doch", sagt Abdessamad, als er Ghassen sieht. Die beiden haben sich auf einer Party kennengelernt. Alle duzen sich.
ZEIT ONLINE: Wenn ihr auf einer Party seid, wie oft hört ihr die Frage: Woher kommst du eigentlich?
Ghassen Rahmani: Ständig.
ZEIT ONLINE: Was antwortest du?
Ghassen: Kommt drauf an, wer fragt. Ich bin Italiener, Tunesier und auch Deutscher. Aber Deutsche fragen mich oft, ob ich Inder bin oder Südamerikaner. Araber fragen mich immer drei Dinge, die nerven: Wie bist du hierher gekommen? Bist du verheiratet? Wann fährst du in die Heimat?
Youcef Chaouch: Ich sage immer, ich bin Algerier, geboren in Paris. Das Problem ist, die Deutschen sehen in mir nur den Franzosen.
Abdessamad Idrissi, 34, stammt aus dem Süden Marokkos. Seit knapp sieben Jahren ist er mit einer Deutschen verheiratet, sie haben zwei Kinder. Seit 2010 leben sie in Deutschland, seit acht Monaten in Berlin. Er ist Programmierer und arbeitet bei einem IT-Startup. © Andreas Prost für ZEIT ONLINE
ZEIT ONLINE: Wieso ist das ein Problem?
Youcef: Ich will das Bild von Algeriern verbessern, nicht das von Franzosen. Ich bin nicht direkt ein Vorbild, aber ich habe immerhin studiert, ich bin kein Drogenhändler, ich klaue nicht. Aber die Deutschen ordnen mich lieber in die Schublade des Franzosen ein. So bin ich euch ähnlicher, dann ist es leichter, mich zu verstehen.
Ghassen: In Deutschland ist Ausländer eben nicht gleich Ausländer. Mein Stiefvater ist Holländer. Für die Menschen hier ist er der Deutsche, weil er blond ist. Ich bin der Ausländer, obwohl ich in Hamburg geboren bin.
Abdessamad Idrissi: Wenn mich jemand nach meiner Herkunft fragt, antworte ich einfach, ich komme aus Marokko. Das ist meine Identität, dafür schäme ich mich nicht. Meistens fragen sie dann auch: Bist
du Araber? Ich spreche arabisch, aber ich bin kein Araber. Ich bin Berber. Und dann muss ich erklären, dass Berber schon lange vor den Arabern in Nordafrika gelebt haben.
Ghassen: Ja, man sagt zu Tunesiern, Marokkanern, Algeriern einfach Araber. Warum? Weil sie arabisch sprechen? Die Südamerikaner sind auch keine Spanier.
ZEIT ONLINE: Was wäre der richtige Ausdruck?
Ghassen: Das sind einfach Nordafrikaner.
ZEIT ONLINE: Das ist der Begriff, der in Deutschland seit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht plötzlich präsent ist. Ist der nicht auch pauschalisierend?
Abdessamad: Der Begriff Nordafrikaner ist neu. Aber ich finde ihn besser als zum Beispiel Maghreb-Araber, wie man in arabischsprachigen Medien sagt. Er ist präziser. Tunesier, Algerier, Marokkaner haben fast die gleiche Tradition.
ZEIT ONLINE: Ghassem, du hattest bisher die tunesische und die italienische Staatsbürgerschaft. Jetzt hast du dich auch in Deutschland einbürgern lassen. Warum?
Ghassen: Ich bin ja in Hamburg geboren. Und ich wollte die soziale Sicherheit.
Youcef: Du möchtest Hartz IV bekommen! (lacht)
Ghassen: Nein, das kann man auch als Italiener bekommen, das ist kein Problem. (alle lachen) Ich wollte unbedingt einen deutschen Pass haben, um nicht mehr diskriminiert zu werden. Ich hatte das Gefühl: Entweder bist du Deutscher und hast eine gute Position, oder du bist ein Ausländer und zum Reinigen angestellt. Ein Ausländer, der keine Aufenthaltsgenehmigung braucht, weil er Europäer ist, und sich einfach für eine bessere Position bewirbt: Das wird als frech empfunden. Ich habe in einem Hotel am Ku'damm gearbeitet. Ich war immer eine halbe Stunde zu früh. Und sie meinten zu mir: Warum bist du so früh? Du bist doch Ausländer. Du kannst mindestens fünf Minuten zu spät kommen.
ZEIT ONLINE: Wollten sie nicht gerade, dass du dich strikt an die Regeln hältst?
Ghassen: Ja, aber ich habe es mit den Regeln übertrieben. Du sollst zwar alles richtig machen. Aber du musst Raum nach oben lassen, damit der Deutsche noch besser sein kann als du.
Youcef: Ich habe das nie erlebt. Ich bin schockiert. Schreibst du in deinem Lebenslauf, dass du auch Tunesier bist?
Ghassen: Nein, das weiß hier keiner.
ZEIT ONLINE: Also steht jetzt nur noch deutsch in deinem Lebenslauf?
Ghassen: Nein, deutsch-italienisch, nur deutsch ist ja langweilig.
ZEIT ONLINE: Youcef, hast du schon negative Erfahrungen gemacht?
Youcef: Selten.
Ghassen: Du hast einen Akzent-Bonus. (lacht)
Ghassen Rahmani, 32, geboren in Hamburg, aufgewachsen in Tunesien und Frankreich. Sein Vater ist Tunesier, seine Mutter Italienerin. Er hat in Tunesien die Schule beendet und Tourismus studiert, dann zwei Jahre lang in Paris gearbeitet. Vor sechs Jahren kam er nach Berlin, studierte hier Hotelmanagement, nun macht er eine Umschulung zum Handelskaufmann. 2015 hat er sich einbürgern lassen. Er hat jetzt die italienische, tunesische und deutsche Staatsbürgerschaft. © Andreas Prost für ZEIT ONLINE
Youcef: Die Deutschen sagen nur: Ach, der Franzose ist immer zu spät.
ZEIT ONLINE: Ist es anders, Algerier in Frankreich als Algerier in Deutschland zu sein?
Youcef: In Frankreich hat man als Algerier gleich den Stempel: Drogendealer, Ghetto, Banlieue. In Deutschland haben nur Türken so einen Stempel. Als ich nach Deutschland kam, fand ich richtig gut, dass man hier nicht dieses Bild von mir hat.
ZEIT ONLINE: Abdessamad, wie ging es dir, als du nach Berlin gezogen bist?
Abdessamad: Am Anfang habe ich in Köpenick gewohnt, wo es nur wenige Ausländer gibt. Da war ich spazieren, ein Junge kam vorbei und rief: "Ey, du, schwarze Haare!" Ist das diskriminierend? Ich habe ja schwarze Haare. Ich würde sagen, ich habe keine Diskriminierung erlebt.
Youcef: Auch bei der Arbeit nicht? Ist das nicht schwierig, ohne perfektes Deutsch?
Abdessamad: Da gibt es sowieso mehr Ausländer als Deutsche. Bei Programmierern läuft alles auf Englisch. Ich merke es nur manchmal, wenn ich einkaufen gehe oder etwas fragen will und anders behandelt werde, weil mein Deutsch nicht so gut ist.
Youcef: Aber das ist was anderes. Das ist kein Rassismus.
ZEIT ONLINE: Abdessamad und Youcef, habt ihr einfach Glück? Oder macht ihr etwas besser als Ghassem?
Youcef: Das klingt ja, als ob es Leute gibt, die Rassismus verdient haben.
Abdessamad: Vielleicht fühlen sich manche Leute schneller diskriminiert als ich. Es gibt Leute, die reagieren auf die Frage nach der Herkunft empört. Ich denke: Okay, frag mich das ruhig. Ich treffe Leute, zum Beispiel in Bars, und sie wollen immer etwas über meine Kultur wissen. Ich diskutiere gern über Politik und Religion. Es ist eine Chance, vieles zu erklären.
Youcef: Ich bin locker, kann gut reden, daher habe ich keine Probleme. Bei mir hat es auch mit dem Äußeren zu tun. Ich sehe nicht typisch arabisch aus.
Ghassen: Was ist typisch arabisch? Jetzt pauschalisierst du.
Youcef: Ich habe nie rassistische Witze gehört, weil ich eben für alle hier Franzose bin. Aber ein algerischer Freund von mir arbeitet als Flugzeugingenieur, seine Kollegen sind alle Berliner, die machen seit Köln nur Witze über Araber. Er fühlt sich gemobbt.
Abdessamad: Also ich finde, manchmal hat die Pegida-Bewegung Recht. Leute kommen illegal aus Marokko hierher, der Staat bezahlt Geld für sie. Und dann machen sie Blödsinn.
ZEIT ONLINE: Warum machen sie diesen Blödsinn?
Ghassen: Man muss dazu verstehen: In nordafrikanischen Ländern herrscht eine strikte Hierarchie. Hör auf deinen großen Bruder, hör auf deinen Vater, hör auf deinen Lehrer, deinen Bürgermeister, Präsidenten, König! In vielen Familien gibt es zu wenig Kommunikation. Da wird nicht wie hier geduldig mit den Kindern geredet.
Youcef: Du hast Recht, Ghassem, darüber habe ich so noch nie nachgedacht. Diese Hierarchie ist ein Problem.
ZEIT ONLINE: Wieso?
Youcef: Du darfst nicht hinterfragen, was du zu tun und zu lassen hast. Eine Frau auf der Straße küssen? Niemals! Es wird dir nichts erklärt, sexuelle Erziehung gibt es nicht. Mütter sagen nicht: Wenn du mit einer Frau schläfst, benutz ein Kondom. Frauen und Männer mischen sich nicht. Und, ganz ehrlich: Diese Araber von Köln, das sind keine Studenten, keine Informatiker, keine Hotelmanager. Die kommen aus armen Familien nach Deutschland und verkaufen hier Drogen. Es ist alles neu für sie. Es sind keine Eltern da, nur die Kumpels und zusammen sind sie wild.
Abdessamad: Ich glaube, es hat aber nicht so viel mit Bildung zu tun. Es ist eher ein Lifestyle, zumindest, dass man Frauen hinterherruft. Ich habe Freunde, die studieren und es trotzdem machen.
ZEIT ONLINE: Machst du das auch?
Youcef: Na ja, er ist verheiratet... (zeigt auf Abdessamad)
Abdessamad: Ich bin in Marokko schon mit Freunden unterwegs, die etwas rufen. Wir lachen dann.
ZEIT ONLINE: Und hier?
Abdessamad: Ich habe einen Freund aus Portugal, der zu Frauen auf der Straße sagt "What a beautiful day today!" Ich finde das lustig.
Youcef: Seht ihr, so sind nicht nur Nordafrikaner. Portugiesen, Italiener, und vor allem die Franzosen, sie quatschen jede Frau an.
Abdessamad: Es gibt diese Kultur in Marokko, wenn ein Mädchen die Straße entlang läuft, rufen Männer: Hey Süße! Diese Kultur ist neu, das gibt es erst seit den Achtzigern.
Youcef: Das Anmachen?
Abdessamad: Ja. Manche Leute behaupten, das läge daran, dass die Frauen heute so kurze Röcke tragen. Aber ich kann dir Bilder aus den fünfziger und sechziger Jahren in Marokko zeigen, wo die Frauen superkurze Röcke und Kleider getragen haben und es ist nichts passiert, alle hatten Respekt. Das Anmachen ist ein neuer Stil, eine neue Generation.
ZEIT ONLINE: Ihr gehört zu dieser Generation. Hättet ihr auch zu den Tätern von Köln gehören können, wenn euer Leben anders verlaufen wäre?
Youcef: Hätte schon sein können. Wenn ich in einem Dorf aufgewachsen wäre, wo ich keine Frau hätte ansprechen können, ohne dass es alle mitbekommen. Wie hätte ich den Umgang mit ihnen lernen sollen? Wäre ich dann noch arm gewesen, wäre ich illegal nach Europa gegangen. Hier wäre ich dann mit fünf Jungs unterwegs gewesen und hätte eine hübsche Frau auf der Straße gesehen... Wer weiß?
Abdessamad: Aber ich bin auch in einem kleinen Dorf aufgewachsen, dort hatte ich auch Kontakt mit Mädchen. Man kann auch in die Bar gehen und dort Frauen treffen.
Ghassen: Aber ob Stadt oder Dorf: Es gibt auch Familien, in denen die Mutter sagt: Hey, kannst du mir deine Freundin vorstellen?
Youcef: Eine Freundin den Eltern vorstellen? Auf keinen Fall! Das geht in keinem nordafrikanischen Land. Du musst verheiratet sein, oder zumindest verlobt.
Ghassen: Nein! In Tunesien ist das ganz normal.
Youcef: Vielleicht ist es normal für reiche Leute. In jedem Land der Welt gibt es Schichten, die sich alles erlauben können. Wenn du arm bist, ist die Religion mit ihren Vorschriften prägend.
Ghassen: Nein, was hat Geld damit zu tun? Es liegt an der Erziehung. Das bedeutet: Manche kommen nach Europa, sehen hübsche Frauen auf der Straße und sind geschockt: Oh, Frauen auf der Straße! Da laufe ich hinterher. Ein Typ, der wie ich aufgewachsen ist, findet das normal.
Aber mein erster Tag beim FKK am Plötzensee war natürlich krass. (schaut zu Abdessamad) FKK, kennst du das?
Abdessamad: Ich war da. Interessant.
Youcef: Echt? Ich noch nie!
Ghassen: Ich habe meine Mutter angerufen: Rate mal, was ich gesehen habe! Aber inzwischen ist das normal geworden für mich, bis hin zur Langeweile. Jemand, der das nicht gewohnt ist, sieht Nacktheit und wird einfach zugreifen. Das Problem ist: Wenn das jemand macht, der aussieht wie ein Araber, heißt es danach: Alle Araber sind so.
Youcef: Stimmt.
Abdessamad: Wir haben ein Sprichwort in Marokko: Ein schlechter Fisch macht den ganzen Sack stinkig.
Ghassen: Egal ob Angrabschen oder Terror, sie werden in Sippenhaft genommen. Wenn ein blonder weißer Norweger auf einer Insel Jugendliche erschießt, ist er psychisch gestört. Wenn ein Nordafrikaner oder Araber ein Attentat begeht, gelten alle als böse.
ZEIT ONLINE: Was habt ihr gedacht, als ihr von den Brüsseler Anschlägen erfahren habt? Habt ihr sie anders gesehen als Deutsche ohne Migrationshintergrund?
Youcef: Klar. Ich dachte: Ach Mann, schon wieder ein Araber. Bei Paris habe ich so gehofft: Oh, bitte nicht! Und es war ein Araber. Dann dachte ich: Oh, bitte, kein Algerier, Tunesier oder Marokkaner! Und es war ein Algerier.
ZEIT ONLINE: Und hast du das nach Brüssel wieder gedacht?
Youcef: Mir war klar, dass es wieder ein Araber ist.
Abdessamad: Mir auch.
ZEIT ONLINE: Ghassem, was hast du gedacht?
Ghassen: Jeder ist nur Paris und Brüssel. Ich habe das Gefühl, nach keinem Anschlag in Tunesien sagte jemand: Je suis Tunesie.
Abdessamad: Der Unterschied ist, dass es anderswo so oft passiert, hier nicht.
Ghassen: In Frankreich sind nach einer Attacke die Straßen leer. Aus Tunesien gibt es Selfies, auf denen im Hintergrund das Militär zu sehen ist, das schießt. Das ist eine Mentalitätsfrage. Sie übertreiben.
Youcef: Nein, sie kennen das hier einfach nicht. Ich habe in Algerien den Bürgerkrieg erlebt während der neunziger Jahre. Da gab es jeden Tag Attentate, ich habe dadurch eine gewisse Distanz dazu.
ZEIT ONLINE: In Deutschland haben viele Angst: vor Terroristen, Flüchtlingen, oder auch vor der AfD. Wovor habt ihr Angst?
Youcef: Vor dem Rechtsextremismus habe ich keine Angst, das kenne ich aus Frankreich.
Abdessamad: Angst habe ich vor dem IS oder Nuklearwaffen. Und ich mache mir Sorgen, dass das Bild von uns schlechter wird. Aber ich fühle mich hier sicher.
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